Zeit in der Paar*beratung: Wie unterschiedliche Lebenstempi Beziehungen beeinflussen.
- Anna Baubin
- 15. Apr.
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Aug.
Die Zeit ist eine der 6 Lebensdimensionen nach Dr. Yvonne Maurer, Begründerin des Instituts für körperzentrierte Psychotherapie (IKP) in Zürich.
Und obwohl sie so ein wichtiger Faktor im Leben aller ist, wird sie in Beziehungen oft vernachlässigt oder überhaupt nicht wahrgenommen.
Dabei sind viele Beziehungskonflikte zum Teil auf diese Dimension zurückzuführen. Ein Blick auf sie könnte bei vielen Paaren* mehr Verständnis und Zufriedenheit bewirken.
*Als Paar verstehe ich immer zwei Menschen, die in irgendeiner Beziehung zueinander stehen. Das schliesst alle Arten von Beziehungen (romantisch, Elternschaft, Freund'innenschaft, Wohngemeinschaft, projektbezogen, Playmates etc. pp.) mit ein.
Klicke hier für Video und Audio.
Zeit ist relativ.
Das kennen wir ja: Zeit kann sich immens unterschiedlich anfühlen, je nachdem, ob wir im faden Wartezimmer sitzen oder auf der Tanzfläche wackeln. Beim einen reihen sich die Sekunden zäh aneinander, beim anderen verfliegen die Stunden wie im Flug.
Es gibt Stimmen, die sagen, Zeit sei sowieso eine Illusion.
Die zahlreichen Uhren in meiner Wahlheimat Zürich, an vielen Handgelenken und vor allem auf allen Bildschirmen unserer Zeit, machen sie aber heutzutage realer denn je in der Menschheitsgeschichte.
Also wollen wir uns hier anschauen, welchen Einfluss die Zeit auf Beziehungen haben kann und warum sie ein so wichtiger Aspekt ist.
Vorweg: Es gibt kein richtig oder falsch.
Unterschiedliche Lebenstempi von Beziehungspersonen können zu echten Konflikten führen.
Bewusstsein und Verständnis für diese Unterschiedlichkeiten können jedoch dabei helfen, hohe Wellen auf dem Beziehungsmeer zu glätten. Im besten Falle, bevor sie bereits entstanden sind.
Denn wir alle nehmen Zeit anders wahr. Und das beeinflusst unser Denken, Fühlen und Handeln auf unterschiedliche Weise. Keine dieser Varianten ist mehr oder weniger richtig oder falsch.
Sie sind halt einfach nur anders.
Am Anfang ist’s rosa rosig.
Häufig ist es gerade in romantischen Beziehungen so, dass stark unterschiedliche Lebenstempi beim Kennenlernen anziehend wirken.
Dinge werden gedacht, wie:
“Ah, ich find diese Person so toll, weil sie so entspannt ist. Mit ihr an meiner Seite werde ich vielleicht auch entspannter.”
Oder,
“Ui, die Person ist ganz toll, weil sie so zackig drauf ist. Ich bin ja manchmal ein bisschen langsam - vielleicht färbt die Schnelligkeit ja auf mich ab.”
Spannungen, die aufgrund unterschiedlicher Zeitwahrnehmung entstehen, werden anfangs oft gar nicht gesehen oder ignoriert.
Später können sie jedoch zu mehr oder weniger subtilen Gefühlen der Ablehnung oder anderen Missverständnissen zwischen den Beziehungspersonen führen.
Es können Situationen entstehen, in denen der fade Geruch von Zurückweisung hängen bleibt, wenn die andere Person schon wieder keine Zeit hat.
Oder es breitet sich die nagende Sorge aus, dass zu wenig Liebe und Achtung da ist, wenn das Gegenüber wiederholt auf sich warten lässt.
Was oft als ein gravierender Mangel an Zuneigung und Interesse, Vermissen oder Geduld, Anerkennung oder Verbundenheit gedeutet wird, lässt sich jedoch mit Berücksichtigung der blossen Unterschiedlichkeit im Zeitempfinden und deren Auswirkung auf die Beziehungsdynamik relativieren.
Wo Unterschiede verbindend waren, führen sie nun zu Distanz.
Klassiker: Eine Person ist sehr schnell, die andere langsam. Das zeigt sich nicht nur beim Gehen von A nach B, wo die eine mit steigender Genervtheit immer wieder wartet und damit Druck auf die andere ausübt.
Dieser Druck macht mürbe und was eigentlich wie früher ein gemütlicher Stadtbummel hätte werden sollen, avanciert zu einem passiv-aggressiven Minenlauf.
Auch beim Erledigen von Haushaltsaufgaben, beim Treffen von Entscheidungen, beim Haus verlassen, Einkaufen, Schuhe anziehen, überall zeigen sich im Alltag unterschiedliche Tempi.
Anfangs können beide damit gut umgehen und finden den anderen Modi durchaus liebenswert. Mit der Zeit können sie jedoch im Alltag und bei wiederholter - unbewusster - Reibung zum müffelnden Potpourri des gegenseitigen Missmuts kippen. Schade eigentlich.
Die Küche als Wespennest.
Speziell beim Kochen zeigen sich zum Beispiel auch in einer meiner Beziehungen die konträren Lebenstempi plakativ.
Während diese Beziehungsperson gemächlich die Rüebli einzeln und bedacht in Scheiben teilt, schwinge ich in hohem Tempo das Messer.
So sind wir halt verschieden.
Soweit kein Problem.
Wenn ich aber hungrig bin, macht es überhaupt keinen Sinn, in dieser Konstellation das Küchenruder abzugeben.
Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ich bei jeder bedächtigen Bewegung meines Gegenübers innerlich noch nervöser werde, ist gross.
Denn wo dort mit Seelenruhe gewerkelt wird, steigt meine Nervosität proportional zu meinem Hunger und damit wiederum die Wahrscheinlichkeit eines passiv-aggressiven Kommentars in Richtung der anderen Person.
Verständlich? Ja.
Förderlich? Nein.
Verbindend? Im Gegenteil.
Beim Kochen lässt sich übrigens auch eine der klassischen Beziehungsdynamiken ganz wunderbar beobachten: Die Führen und Folgen Dynamik. Dazu unten und in einem späteren Blogartikel mehr.
Weitere Einflüsse der Zeit auf Beziehungen.
Die Zeit kann sich auch in den Wünschen auswirken, wie viel Zeit miteinander verbracht werden möchte und/oder wie diese Zeit gemeinsam gefüllt und erlebt wird.
Vielleicht gibt es auch unterschiedliche Vorstellungen von Pünktlichkeit. Was für die eine Person total im Rahmen liegt, treibt der anderen sprichwörtliche Pusteln ins Gesicht.
Spannend auch zu beachten, wo sich die einzelnen Personen auf ihrer inneren Zeitachse aufhalten. Ist jemand zukunftsbezogen, vergangenheitsbezogen oder im Hier und Jetzt?
Die eine Person plant immer alles gern im Voraus, denn es schenkt ihr innere Sicherheit zu wissen, was in 3 Tagen passiert.
Für eine Person, die am allerliebsten im Jetzt entscheidet, wohin der nächste Schritt gehen wird, kann das absolut unverständlich sein.
Die Bedürfnisse sind hier schlicht anders.
Gehen diese beiden gemeinsam auf Reisen oder haben ein anderes Projekt zusammen vor, sollte darüber im Vorfeld gesprochen werden. Konflikte und Enttäuschungen können so minimiert oder sogar ganz vermieden werden.
Die (innere) Uhr tickt.
Und sie tickt für alle anders. Bei den einen lauter, bei anderen verschwindet sie gemächlich im Hintergrund des Bewusstseins.
Und das ist noch ein weiterer Aspekt, in dem die Zeit eine grosse Rolle spielt: die eigene bzw. gemeinsame Timeline des Lebens.
In romantischen Beziehungen wird uns ja oft auch gesellschaftlich suggeriert, dass es immer einen baldigen nächsten Schritt geben muss und irgendwie nichts stagnieren darf.
Das kommt wohl aus unserem wirtschaftlichen System, das auf Wachstum aufbaut und auf Unzufriedenheit beruht.
Der sogenannte “Relationship Escalator” (zu Deutsch: Beziehungs-Rolltreppe) beschreibt eine Reihe gesellschaftlicher Erwartungen darüber, wie sich eine klassische romantische Beziehung entwickeln sollte: Kennenlernen > Daten > Netzwerk kennenlernen > Zusammenziehen > Heiraten > Kinder.
Wenn ein Teil der Beziehung so schnell wie möglich zu den Kindern sprinten möchte und der andere sich auf der Dating-Stufe pudelwohl fühlt, dann macht es Sinn, immer wieder darüber zu sprechen und gemeinsam zu sehen, wie damit umgegangen werden kann.
Der frühe Vogel kann mich mal.
Auch ein Klassiker:
Das eine Vögelchen ist Morgenmensch und das andere braucht nach dem Aufwachen erst einmal noch 4 - 8 Stunden Bootingzeit.
Will das eine schon am Frühstückstisch detailliert Pläne, Verabredungen und Aufgaben besprechen, kann es sein, dass das ins Leere verpufft.
Dinge werden gesagt, jedoch nicht gehört.
Pläne werden geschmiedet, doch mit eher einseitigem Commitment.
Vögelchen werden enttäuscht und niemand weiss so genau wieso.
Dass das bei Wiederholung zu Spannungen führt, ist vorprogrammiert.
Wichtig also: Zu welcher Zeit sind alle Involvierten in der Lage, konstruktiv an der Unterhaltung beizutragen? Und wann eher nicht?
Wer gibt das Tempo vor?
Ein kleiner Ausflug in eine der - wie ich finde - spannendsten Beziehungsdynamiken: die Führen und Folgen Dynamik.
Denn eine zentrale Frage ist: Gibt eine Person in der Beziehung das Tempo mehrheitlich vor und die andere passt sich an?
Und noch eine interessantere Frage: Wissen das alle und sind damit einverstanden, dass sich diese Dynamik eben so etabliert hat?
Im Grunde ist es nicht gut oder schlecht, wenn eine führt und eine folgt. Auch hier gibt es kein richtig oder falsch. Doch es ist wichtig, sich diesen Rollen bewusst zu sein und Einverständnis von beiden Beziehungspersonen zu haben.
Frei, fluide, friedvoll.
Oder ist es vielleicht sogar möglich, dass das Bewusstsein der individuellen Tempi dazu führt, die Vorteile und Stärken der Unterschiedlichkeit zu erkennen und sie sogar zu zelebrieren?
Dass sich beide flexibel in die Richtung der anderen Person bewegen können, ohne sich dabei zu verlieren? Und sich - je nach Situation und Notwendigkeit - irgendwo dazwischen treffen und sich so das Friedvollste und Stimmigste aus der gemeinsam möglichen Dynamik ergeben kann?
Wär doch schön, nicht?
Zeit in ethischer Nicht-Monogamie
Als endliche Ressource ist Zeit natürlich auch ein wichtiger Faktor in ethischer Nicht-Monogamie.
Es stellen sich unweigerlich Fragen wie: Wie viel Zeit verbringe ich mit welcher Person? Was lösen meine Entscheidungen bei wiederum anderen aus?
Die Menge der gemeinsam verbrachten Zeit wird oft mit der Menge an Liebe und Verbundenheit gleichgesetzt. Das haben wir wohl der Normalität der Hierarchie von Beziehungen in unserer mononormativen Beziehungskultur zu verdanken.
Doch in welcher Beziehung die involvierten Personen dabei sind, spielt eigentlich keine Rolle. Denn dieses Thema kann in jeglicher Art der Beziehungskonstellation zu Spannungen und Konflikten führen und lohnt sich deshalb immer, in der Beziehungspflege mit in Betracht zu zeihen.
Wer hat Anspruch auf meine Zeit?
Jener Beziehungsperson, mit der ich momentan am meisten gemeinsame Zeit verbringe, habe ich letztens unter innerlichem Widerstand mitgeteilt:
Ich habe das Bedürfnis, wieder mehr Zeit mit anderen Menschen zu verbringen. Gleichzeitig möchte ich nicht weniger Me-Time haben und werde ergo diese Zeit von unserer gemeinsamen Zeit “abzwacken” müssen.
Alleine schon die Formulierung zeigt: Ein Teil von mir meint also, ich würde diesem Menschen etwas wegnehmen, was ihm irgendwie zusteht.
Suggeriert dazu noch: Ich kann wegen unserer Beziehung nicht mehr ganz frei über meine Zeit bestimmen und habe irgendwie ein subtiles schlechtes Gewissen, wenn ich mit anderen mir lieben Menschen Zeit verbringe.
Die erlernten Beziehungshierarchien prägen also immer noch unterbewusst meine Gefühlswelt. Ich bin einfach froh, mich heute darin zu beobachten und mich neu entscheiden zu können.
Unser Leben ist schneller geworden.
Ein bemerkenswerter Faktor unserer modernen Welt ist die quasi ständige digitale Verfügbarkeit.
Bis vor kurzem war es in der Menschheitsentwicklung so: Wer nicht in unmittelbarer Nähe war, mit denen hatten wir im Alltag nichts zu tun.
Allein schon wegen der Kommunikationsmittel gab es früher Leerläufe und Wartezeiten.
Wenn jemand nicht zu Hause war, konnten wir nicht anrufen.
Die Briefpost hat mehrere Wochen gedauert.
Kommunikation war über grosse Distanzen so gut wie nicht möglich.
Heute, mit dem Handy in der Hand, stellen sich Fragen wie:
Wieso ruft die andere Person nicht gleich zurück?
Wieso ist die andere Person ständig am Handy, braucht aber ewig, mir zurückzuschreiben?
Was passiert, wenn sich meine Beziehungsperson 3 Tage nicht bei mir meldet?
Ist das ein Indiz für meine Unwichtigkeit?
Muss ich mir Sorgen machen? Um sie? Um unsere Beziehung?
Fühle ich mich selbst unter Druck wegen der Erwartung der permanenten Verfügbarkeit?
Ich sehe das auch in einigen Beziehungen um mich herum.
Viele Paare in romantischen Beziehungen stehen täglich - manche gefühlt quasi 24/7 - miteinander in Kontakt.
Das gibt's auch bei erwachsenen Kindern und ihren Eltern, die mehrmals täglich telefonieren.
Das ist per se auch kein Problem. Wenn zum Beispiel ein gemeinsamer Haushalt mit Kindern geteilt wird, dann kann das eine Notwendigkeit an mehr Koordination voraussetzen.
Doch muss man auch sonst immer täglich mehrmals voneinander hören? Im ständigen Kontakt stehen?
Auch hier wieder wichtig zu fragen:
Haben sich die Involvierten bewusst dazu entschieden und stimmt das so für alle nach wie vor?
Und weiters:
Bleibt dabei noch genügend Zeit für sich selbst und andere Beziehungen?
Wie viel dieser Kommunikation ist echter Kontakt?
Oder wird die Zeit mit Oberflächlichem gefüllt, um ein Gefühl der Verbundenheit herzustellen, weil in der Distanz an genau dieser unbewusst gezweifelt wird?
Fragen über Fragen.
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Manchmal frag ich mich auch: Wo wollen wir denn alle so schnell hin?
Und möchte hier dafür appellieren, sich in Beziehungen mehr Zeit zu lassen.
Den Sog wahrzunehmen, schnell weiter gehen zu wollen und allein durch das Bewusstsein, die ganze Sache schon zu entschleunigen.
Ich selbst werde mir in letzter Zeit immer wieder einer mir selbst eingebildeten Dringlichkeit bewusst. Ein Impuls kommt und dann muss alles schnell gehen ...
Doch warum eigentlich?
Speziell in der Kennenlernphase passiert oft vieles innerhalb kürzester Zeit.
Und in der Sexualität auch. Anziehung da, geknutscht, ausgezogen und schwups, nicht allzu lange Zeit später wurde alles abgespult, was auch bewusst in die Länge gezogen und dadurch mehr genossen hätte werden können.
Denn im “sich Zeit lassen” kann einerseits das Jetzt ganz unmittelbar erlebt werden und auch die Vorfreude bekommt mehr Platz.
Das Erforschen der anderen Person und der einzigartigen Beziehung, die dazwischen immer aufs Neue entsteht, ist eine eindrucksvollere Reise, wenn wir nicht so hudeln.
Vom Hudeln kommen sprichwörtliche Kinder.
Wer einen Wunsch nach ihnen hat, mag das vielleicht noch eher freuen.
Doch ich bin der Überzeugung, alle sind gut damit beraten, das Tempo so weit rauszunehmen, damit eine gemeinsame Auseinandersetzung der Lebensdimension Zeit in der Beziehung tatsächlich stattfinden kann.
Das ist weniger eine Frage der Zeit, als der Absicht und des Willens, sich um die Beziehung zu kümmern.
Denn es geht um die gemeinsame Zukunft.
Diese im Jetzt zusammen friedvoll zu gestalten ist das Anliegen bei mir in der Beziehungsberatung.
Von Herzen

P.s. Dieser Text ist unter anderem inspiriert durch den Artikel »Zeit ist ein mächtiger Faktor für Beziehungen« von Gabriela Herpell aus dem SZ Magazin vom 24. März 2023. Danke an meine liebe Freundin Talaya und dem Hot HotLein Chat für diesen Impuls. 💜
Mehr davon?
Noch so gern! Melde Dich einfach für den Newsletter an (wenn Du da nicht schon Teil von der Partie bist) und erfahre direkt in Deinem privaten Posteingang, wenn es etwas neues Spannendes zu lesen, schauen und hören gibt.
Praxis der inklusiven, systemischen Beziehungsberatung für Einzelpersonen und Paare*
Anna Baubin | Psychologische Beraterin in Zürich
*Paar, Substantiv, (n)- zwei durch eine (wie auch immer geartete) Beziehung miteinander verbundene Menschen.